Ein Teenager starb in Frankreich nach einem Polizeischuss, es kam zu Krawallen. Warum findet das Land keine Antwort auf die Wut der Jugend?
Clichy-sous-Bois: Hier eskalierte die Gewalt, als 2005 zwei Teenager auf der Flucht vor der Polizei starben Foto: Antoni Lallican/Hans Lucas/AfpChristian Jakob Aus paris, île-de-france, 7.7.2023, 14:33 Uhr
Sie wusste, dass es ihr Kind war Mehr als eine Woche nach dem Tod Nahels versucht sie im Café Voltaire noch immer zu begreifen, was geschehen ist. Als die Nachricht vom Tod Merzouks auf Facebook die Runde machte, „waren wir nicht schockiert“, sagt Labssi. „Das passiert dauernd. Wir haben das psychisch in unseren Alltag integriert.“ Doch dann, erinnert Labssi sich, habe ihr Sohn zu ihr gesagt: „Du kennst ihn auch.“ Nahel habe doch als Essenslieferant gearbeitet.
Wen meint Labssi mit „sie“ – die französischen Polizeigewerkschaften, die kurz nach Nahels Tod von „Horden“ sprachen, gegen die sie nun „im Krieg“ seien? Nein, sagt sie, wenn es nur die wären. Der Innenminister Gérald Darmanin habe genauso geredet, sagt Labssi. Sie zeigt auf ihrem Handy einen Artikel: „Il faut stopper l’ensauvagament“, zu Deutsch: „Wir müssen die Verwilderung stoppen“, ist er überschrieben.„Sie halten uns für Wilde“, sagt Labssi.
Früher hießen Viertel, in denen Menschen wie sie leben, „Cité“. „Das zeigte, dass dort Bürger wohnen“, sagt Labssi. Die heutigen Worte stehen für etwas anderes: „In der Banlieue wohnen keine Bürger. Dort leben schlechte Eltern und Delinquenten.“ Gefährliche Entwicklung Schon vor Jahren hätten antirassistische Gruppen aus den Banlieues gesagt: Was sich entwickelt, ist gefährlich. „Aber es wurde abgetan. Der Repression wurde politisch nicht entgegengetreten.“ So würden Kinder wie ihr eigenes „geboren in ein Land, das sie misshandelt“, sagt Labssi.
Den Gedanken hat auch Éléonore Luhaka. Die Tochter eines kongolesischen Luftwaffensoldaten wuchs in Aulnay-sous-Bois auf, einem Vorort im Nordosten von Paris. Auch dort gab es in den vergangenen Tagen schwere Krawalle. Der damalige Präsident Frankreichs, François Hollande, kommt ans Krankenbett, hält Théos Hand. Viele Fotos wurden von der Szene gemacht.Gegen vier der Beamten wurde ermittelt. Der Prozess wurde immer wieder verschoben, Anfang 2024 soll er jetzt beginnen. Der Anwalt Luhakas hat zwischenzeitlich einen Vorschuss auf eine mögliche Entschädigung geltend gemacht, 10.000 Euro gab es.
Diskriminierung, sozialer Ausschluss, Polizeigewalt: Bürgermeister Bakthiari glaubt nicht an diese Erklärungen Er ist Anfang 30, im blauen Slimfit-Anzug sieht er aus wie ein aufstrebender Banker, er redet schnell, dabei fehlt ihm jede Kühle, vielmehr verströmt er eine weiche Freundlichkeit. Sein Rathaus ist seit den Krawallen geschlossen. Wer ihn sprechen will, muss ihm eine SMS schicken, dann kommt eine Mitarbeiterin und schließt die Tür von innen auf.
Die vergangenen Tage brachte Bakthiari damit zu, mit Gutachtern zu sprechen. Die Mediathek könne frühestens in vier Monaten wieder öffnen, das Wohngeldamt nicht vor September. „Dabei sind 2.300 Menschen auf dessen Leistungen angewiesen. Die Randalierer haben da ihre eigenen Akten verbrannt.“ Seine Eltern seien 1979 aus dem Iran nach Frankreich gezogen, auch er habe einen nichtfranzösischen Namen. „Das entschuldigt gar nichts.“ Er, Bakthiari, habe sich trotzdem integriert. „Das hier ist mein Land.“
Am Dienstag hatte Präsident Emmanuel Macron die Bürgermeister von 200 Kommunen eingeladen, in denen es Ausschreitungen gegeben hatte. Nach drei Stunden, noch bevor das Treffen endete, war Bakhtiari aus dem Élyséepalast herausmarschiert und hatte in die Fernsehkameras gesagt, wie enttäuscht er sei. „Macron hat bis zu dem Zeitpunkt, wo ich gegangen bin, nichts gesagt“, sagt Bakhtiari. Nur die Bürgermeister hätten untereinander gesprochen.
Das einige Kilometer nördlich gelegene Clichy-sous-Bois war lange der Inbegriff explodierender Gewalt in den Pariser Banlieues. Die bis heute schwersten Krawalle nahmen hier ihren Anfang, als zwei Jugendliche am 27. Oktober 2005 auf der Flucht vor der Polizei von Stromschlägen in einem Trafohäuschen tödlich getroffen wurden. Der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy beschuldigte sie zu Unrecht des Diebstahls.
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